Begrenztes Vergnügen - Leseprobe

1 Die beiden
„Onkel Konrad hat sich aufgehängt!“ Viktor steht vor Violetta und zittert am ganzen Leib. „Er hat sich aufgehängt, Violetta“, schreit er noch einmal, „An einem Strick hat er sich aufgehängt! Du musst schnell mitkommen!“
Onkel Konrad hat sich vor einer halben Stunde in seiner Steinmetzwerkstatt umgebracht. Er ist mit einem alten, dicken Strick um den Hals auf eine Holzleiter gestiegen und hat ihn an einem verrosteten Flaschenzug befestigt. Während Tante Martha in der Küche über der Werkstatt geräucherte Rindsbratwürste mit Bratkartoffeln und Sauerkraut – eines von Onkel Konrads Lieblingsessen - vorbereitete, ist er von der Leiter gesprungen. Irgendwann hatte Tante Martha in die Werkstatt hinuntergerufen, dass er endlich hochkommen solle, weil sonst die Rindsbratwürste allmählich, aber sicher auf dem Herd zerbrutzelten. Da baumelte er bereits von der Decke herunter, der Onkel Konrad, zwischen fertiggestellten und noch unvollendeten Grabsteinen, zwischen steinernen Engeln, Kreuzen und Palmzweigen.
„Jetzt komm endlich!“ schreit Tante Martha noch einmal, „die Würscht werden doch immer mickriger. Die haben doch auch ihr Geld gekostet, oder? Aber wir haben es ja!“ Dann rennt sie aufgebracht mit der Pfanne in der Hand in die Werkstatt, um sie dort auf einen der aufgebockten Grabsteine zu donnern. Soll er sie halt dort in sich hineinschlingen, der Konrad, der nie eine Ruhe findet. Der rastlose Mensch, der! „Wo ich mir doch so eine Mühe gegeben habe mit den Bratkartoffeln und dem frischen Majoran drin!“ Aber da hat ihr Konrad bereits mit seiner ewigen Rast begonnen und hängt entseelt am Strick. Kurz nach seinem 46.Geburtstag. Und die ganze Mühe ums Essen umsonst! Und das Geld zum Fenster rausgeworfen!
Als Viktor hört, dass Onkel Konrad tot in der Werkstatt hängt, rennt er aus der Wohnung und zu den Fuhlbrügges, die auf der anderen Seite der Albrechtstraße wohnen, hinüber. Die sitzen gerade beim Mittagessen.
Viktor schreit: „Der Onkel Konrad hat sich aufgehängt.“ Violetta springt vom Esstisch auf und läuft mit Viktor zum toten Onkel in die Werkstatt. Ihr Vater, der Urologe Horst Fuhlbrügge, schüttelt den Kopf. Er hat es überhaupt nicht mit solchen unordentlichen Spontaneitäten und ruft den Kindern nach: „Hat das nicht Zeit?“ Seine Frau Luisa schüttelt den Kopf und sagt: „Aber Horst!“ Horst sagt: „Du hast ja Recht, Liebste.“
Lisa, Violettas ältere Schwester, kaut an ihren Schinkennudeln weiter und meint, dass sie das überhaupt nicht wundere, dass der Onkel Konrad sich aufgehängt habe. „Das liegt bei denen in der Familie“, sagt sie.
„Du musst es ja wissen“, sagt ihr Vater.
„Weiß ich auch. Beim Leonhard merkt man es auch schon.“
„Was merkt man am Leonhard?“
„Diese Lebenstrauer“, erläutert Lisa, die gerade 15 geworden ist.
„Aha“, sagt Horst Fuhlbrügge und denkt: „Wenn die mir am Ende nicht noch Pfarrer wird.“
Leonhard ist Viktors älterer Bruder, und Lisa ist momentan verliebt in ihn, weil sie gern in traurige Menschen verliebt ist. In traurige Menschen wird sich Lisa ihr ganzes Leben lang verlieben. Und wenn nicht traurig, so wenigstens höchst kompliziert.
Einige Minuten später stehen Viktor und Violetta vor Onkel Konrads Leib, der immer noch von der Decke herunterhängt. Viktor hat nach Violettas Hand gegriffen. Die beiden sind elf Jahre alt. Der Onkel ist der erste tote Mensch, den sie in ihrem Leben zu sehen bekommen. Und dann gleich an einem dicken Strick von der Decke herunterhängend. Unheimlich ist es ihnen, wie er so mit offenen Augen ins Leere starrt. Aber sie bleiben bei dem Toten stehen und schauen stumm und staunend zu ihm hoch.
Erst gestern noch haben sie ihn in seiner Steinmetzwerkstatt besucht. Er war trotz seiner Schwermut, an der er litt, fröhlich gewesen und hat ihnen lustige Geschichten von Beerdigungen erzählt. Da war er ein Meister, wenn er vom Tod sprechen konnte. Da blühte er, der sonst eher zum Trübsinn neigte, auf.
40 Jahre später sagte Violetta in einer Juninacht zu Viktor: „Niemand konnte so lustig über den Tod reden wie dein Onkel Konrad.“
„Aber niemand hatte auch so große Angst vor ihm“, antwortete ihr Viktor. „Doch, ich“, entgegnete ihm Violetta. Da saßen die beiden eng beieinander und sahen auf den dunklen Starnberger See hinaus. Violetta ging es bereits sehr elend.
Die Kinder betrachten den leblosen Körper und kriegen es nicht zu fassen. Am linken Armgelenk befindet sich Onkel Konrads Uhr. Der Onkel ist tot, aber seine Uhr tickt weiter, und der silberne Sekundenzeiger läuft wie immer eilig ohne Hemmungen herum. Das bemerken die Kinder und staunen erneut.
„Ja, ja“, sagte Violettas Großtante Cilly, die einzige Uhrmacherin der Stadt, einige Tage später auf Onkel Konrads Beerdigung, „so ist das Leben: ein begrenztes Vergnügen“ und wollte der Witwe Martha die Hand drücken. Doch die ließ es nicht zu, sondern zischte böse zurück: „So begrenzt war das Vergnügen von euch zweien aber auch wieder nicht!“ Damit spielte sie auf die kurze, aber innige Affäre an, die ihr Konrad mit Tante Cilly gehabt hatte, aber schon zehn Jahre zurücklag.
„Aber das ist doch schon gar nicht mehr wahr, Martha, so lang ist das her. Dieses Vergnügen ist doch längst verjährt.“
„So eine Sauerei verjährt nie. Und jetzt schleich‘ dich samt deinem begrenzten Vergnügen, bevor etwas passiert hier am Grab und vor allen.“
Obwohl es auf der Beerdigung sehr traurig zuging und sie Tante Marthas giftige Reaktion nicht verstanden, lachten sich Viktor und Violetta an, als sie Tante Cilly am offenen Grab vom begrenzten Vergnügen reden hörten. Die Tante war eine Meisterin im Erfinden und Verbreiten von Redensarten. „Die Zeit heilt nicht die Wunden“, versuchte sie oft zu erklären und bekam dabei eine überwältigend faltige Stirn, „die Zeit ist die Wunde.“ Das sagte sie, die mit ihrem Bruder Robert, Violettas Großvater, vor langer Zeit eine Uhrmacherei aufgemacht hatte. Viktor und Violetta verstanden damals nicht, wieso die Zeit eine Wunde sein sollte, kamen aber zu dem Ergebnis, dass eine Uhrmacherin, die ja von der Zeit am meisten verstehen müsste, etwas sehr Wahres damit ausdrückte. Je älter die beiden wurden, desto mehr ahnten sie, was Tante Cilly mit ihrer verwundeten Zeit gemeint haben könnte. Vor allem auch als Viktors ständig depressive Mutter zunehmend von ihrer armen Seele sprach, die von der Zeit immer mehr Narben bekäme und dass die weher täten als ihr ständiges Kopfweh, dass sich aber niemand darum schere. Weder um das Kopfweh noch die Narben. „Und am allerwenigsten dein Vater!“
Die Redensart vom „begrenzten Vergnügen“ dagegen begriffen sie von Anfang an, ahmten mit ihr die Tante Cilly nach und verwendeten sie in den verschiedensten Zusammenhängen und Situationen ihr Leben lang. Alles war ein begrenztes Vergnügen. Selbstverständlich. Binsenweisheit. Aber man konnte auch nichts dagegen einwenden. Weihnachten, Eis essen, ein Sommer, die Liebe und natürlich das Leben insgesamt. Das vor allem. Und dieser Gedanke passte eigentlich immer und kam stets sehr gescheit an. Allerdings ging Tante Cillys Weisheit nur auf, wenn man das Leben auch als Vergnügen begreifen konnte. Zumindest zwischendurch und immer wieder. Trotz aller Schranken. Und das versuchten Viktor und Violetta jedenfalls. Im Gegensatz zum Onkel Konrad, der kein großes Talent fürs Vergnügen besaß.
Aber je länger sich Violetta im Leben samt seinen Vergnügungen herumtrieb, desto öfter stieß sie mit ihrem Vergnügen auf Grenzen. Und Grenzen machten ihr immer zu schaffen: körperliche, geistige, familiäre, berufliche, erotische. Grenzen waren für sie Gitter, Käfige, Kerker.
Viktor dagegen konnte mit Grenzen leben. Er nahm sie hin. Das hatte er von Onkel Konrad gelernt, der immer in den unterschiedlichsten Situationen vor sich hinmurmelte: „Mein Gott, es ist halt so. So ist es halt. Was willst du dran ändern?“ Das sagte er, wenn ihm ein Grabstein zu schwer zum Heben war oder er etwas zu viel vom Flügel eines Engels weggemeißelt hatte, wenn er mit Tante Martha herumstritt, wenn ein Bekannter oder Verwandter ihrer Meinung nach zu früh gestorben war. Oder wenn einer gar nicht mehr sterben wollte. Ab und zu war er nahe daran, trauernden Kunden vorzuschlagen, diese Erkenntnis in den Grabstein einmeißeln zu lassen: „Mein Gott, es ist halt so. Was willst du daran ändern? Ruhe in Frieden!“ Diese Inschriften hätten Onkel Konrad mehr zugesagt als dieses ewige „Wir werden dich nie vergessen!“ oder „In großer Trauer“ oder gar „In großer Liebe“. Oder was er sonst noch an Lügen in die Grabsteine hineinhauen musste.
Die wuchtige Elvira Rühle-Wittenbrinck, einst bedeutende Konzertpianistin, jetzt Klavierlehrerin, auch von Viktor und Violetta, stand neben dem Grab und presste mit ihren dicken Fingern „Wenn ich einmal soll scheiden“ in ihr Akkordeon mit 132 Bässen. Etwas zu grell, aber mit großer Inbrunst.
Der alte Hagedorn stand mit seiner Frau Sarah und seiner Tochter, der dicken, rothaarigen Judith auch am Grab, etwas weiter hinten. Einen großen, schwarzen Hut trug er auf dem Kopf und sang laut und tief mit. Tante Marthas Schwester flüsterte: „Jetzt singen die Juden auch noch unsere christlichen Lieder mit! Die haben auch gar nichts gelernt. Und seinen Hut könnte er auch runternehmen auf unserem christlichen Friedhof. Früher hätte man ihm die Judenkappe vom Schädel gehaut.“
Viktors traurige Mutter Lena beschwichtigte: „Die Juden machen das halt so.“ Die Schwester sagte: „Ja, weil sie halt immer noch glauben, etwas Besonderes zu sein.“ Viktors Vaters empfahl ihr daraufhin, ihr Maul zu halten, worauf Tante Martha dachte: „Der hat’s gerade nötig, der Zigeunerbankert, der zugelaufene.“ Damit spielte sie auf Fritz Dorfers uneheliche, armselige Herkunft an. Sein Vater war ein dunkelhäutiger Karussell-Gehilfe vom Jahrmarkt gewesen.